Oswald-Külpe-Preis für Morton Ann Gernsbacher
09.12.2025Die US-amerikanische Psychologin Morton Ann Gernsbacher forscht im Bereich der Sprachverarbeitung und zu Autismus. Dafür wurde sie jetzt von der Würzburger Psychologie ausgezeichnet.
Alle zwei Jahr verleiht das Institut für Psychologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) den mit 3.000 Euro dotierten Oswald-Külpe-Preis. Ausgezeichnet werden damit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre herausragenden Leistungen in der experimentellen Erforschung höherer mentaler Prozesse. In diesem Jahr geht der Preis an die US-Amerikanerin Morton Ann Gernsbacher. Sie erhielt die Auszeichnung im Rahmen einer Feierstunde am 28. November.
Morton Ann Gernsbacher ist eine renommierte amerikanische Psychologin und Professorin, die in erster Linie für ihre Forschung im Bereich der Psycholinguistik, der kognitiven Psychologie und des Autismus bekannt ist. Ihre Arbeiten im Bereich der Sprachverarbeitung waren ein Grund für die Verleihung des Oswald-Külpe-Preises: „Wir würdigen damit ihre herausragenden und äußerst einflussreichen Forschungsarbeiten zum Sprachverständnis, die sich auf die Metapher des Sprachverständnisses als Strukturbildung konzentrieren“, sagte Professor Tobias Richter, Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie IV an der JMU, in seiner Laudatio.
Verstehen basiert auf drei grundlegenden Prozessen
Gernsbachers Kernidee besteht darin, dass das Verstehen auf allgemeinen kognitiven Mechanismen beruht, die unabhängig von der Modalität oder dem Medium funktionieren, über das Informationen vermittelt werden. „Egal, ob wir Informationen in Form von geschriebenem Text, gesprochenem Diskurs oder Bildern begegnen, schlägt Morton Ann Gernsbacher vor, dass wir diese Informationen durch drei grundlegende kognitive Prozesse verstehen: die Schaffung einer Grundlage für eine mentale Repräsentation, die Zuordnung neuer Informationen zu dieser Grundlage und den Wechsel zu einer neuen Struktur, wenn eingehende Informationen nicht mehr zur bestehenden passen“, so Richter.
Dieses Strukturbildungsmodell ermögliche es, viele heterogene Erkenntnisse aus der Psycholinguistik und dem Textverständnis zu erklären. Eine besondere Stärke ihrer Theorie sei deren Fähigkeit, individuelle Unterschiede in der Verständnisfähigkeit zu erklären. Beispielsweise habe Gernsbacher gezeigt, dass weniger geübte Leser Schwierigkeiten haben, irrelevante Informationen zu unterdrücken, was wiederum die grundlegenden Prozesse des Strukturaufbaus stört.
Privater Auslöser für die Autismusforschung
Durch besondere Umstände kam Morton Ann Gernsbacher zu ihrem zweiten Forschungsschwerpunkt: der Autismusforschung. “The inspiration for this knowledge arose from my lap, rather than my lab”, schreibt sie auf ihrer Webseite. Auslöser war die Tatsache, dass im Jahr 1998 bei ihrem Sohn Autismus diagnostiziert wurde. Seitdem hat sie „außergewöhnliche Beiträge zur Autismusforschung geleistet, wo sie eine führende Stimme für evidenzbasierte und nicht defizitorientierte Perspektiven ist“, so Richter.
Gernsbachers Studien zeigen, dass viele Merkmale, die traditionell als „autistische Defizite” bezeichnet werden, stattdessen als Unterschiede in kognitiven und sensomotorischen Prozessen und im kommunikativen Kontext verstanden werden können – und nicht als inhärente soziale Beeinträchtigungen.
Defizitmodelle in Frage gestellt
So hat sie beispielsweise nachgewiesen, dass vermeintliche Defizite von Autisten in der Empathie oft eher auf die Anforderungen einer Aufgabe zurückzuführen sind als auf eine grundlegende Unfähigkeit, andere zu verstehen. „Sie hat Belege dafür geliefert, dass viele soziale und kommunikative Schwierigkeiten, die dem Autismus zugeschrieben werden, in hohem Maße kontextabhängig sind“, sagte Richter. Ihre Arbeit stelle somit Defizitmodelle in Frage und lege den konzeptionellen Grundstein für differenziertere Theorien zur autistischen Kommunikation.
„In ihrer Arbeit zum Thema Autismus hat sich Gernsbacher konsequent für eine strenge Methodik, konzeptionelle Klarheit und eine humane, wissenschaftlich fundierte Sichtweise auf Autismus eingesetzt – und hat diesen Bereich maßgeblich beeinflusst, sich in Richtung einer solchen Sichtweise zu entwickeln“, so Richter.
Zur Person
Die Oswald-Külpe-Preisträgerin hat fünf Jahre lang Spanisch und Englisch an der High School unterrichtet, bevor sie 1983 ihren Doktortitel in Psychologie an der University of Texas in Austin erwarb. Anschließend wurde sie an die University of Oregon berufen, wo sie innerhalb von nur acht Jahren von der Assistenzprofessorin zur außerordentlichen und schließlich zur ordentlichen Professorin für Psychologie aufstieg.
1992 wechselte Gernsbacher an die University of Wisconsin-Madison, wo sie seitdem tätig ist, seit 1994 als Sir Frederick Bartlett-Professorin und seit 2003 zusätzlich im Rahmen einer Vilas-Forschungsprofessur.
Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Anerkennungen, darunter den „Lifetime Achievement Award“ der Society for Experimental Psychology and Cognitive Science, den „Distinguished Scientific Contribution Award“ der Society for Text and Discourse oder die Anerkennung als Fellow der American Educational Research Association.
Fakten zum Oswald-Külpe-Preis
Oswald Külpe (1862-1915) gründete 1896 das Würzburger Psychologische Institut und ging als Vater der „Würzburger Schule der Denkpsychologie“ in die Wissenschaftsgeschichte ein. Die Vertreter dieser Forschungsrichtung waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten, die höhere geistige Prozesse wie das Denken, Wollen und Urteilen experimentell untersuchten.
Zur Erinnerung an ihn vergibt das Institut seit 2005 den Oswald-Külpe-Preis im Turnus von zwei Jahren. Ins Leben gerufen wurde der Preis vom Würzburger Psychologie-Professor Fritz Strack: Er stiftete ihn durch eine Zuspende zur Sparkassenstiftung der Stadt Würzburg.
Bisherige Preisträgerinnen und Preisträger
Die bisherigen Oswald-Külpe-Preisträger sind Asher Koriat (Universität Haifa, 2005), Richard E. Nisbett (University of Michigan, 2007), Michael Tomasello (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig, 2009), Wolfgang Prinz (Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig, 2011), Anke Ehlers (Universität Oxford, 2013), Norbert Schwarz (University of Michigan, 2015), Jan Born (Universität Tübingen, 2017), Paul van den Broek (Universität Leiden, 2019), Jan De Houwer (Universität Gent, 2021) und Klaus Oberauer (Universität Zürich, 2023).
